Dienstag, 5. November 2013

Medizinische Bildungsmöglichkeit



Allgemein wird unterstellt, dass es ein gewisses Desinteresse der Nonnen an Medizintraktaten[1] gegeben hätte, und diese Aussage stützt sich vor allem auf eine Analyse der extrem lückenhaften Buchbestände von Frauenklöstern.[2] Zudem wird die Beobachtung angemerkt, dass manche Handschriften solchen Inhalts bei den Frauen über längere Zeit den Status von Staubfängern in den Bibliotheken hatten.[3] Kann man aber sicher sein, dass es derartigen Handschriften in mittelalterlichen Männerklöstern manchmal nicht ähnlich erging? Ist es wirklich immer eindeutig zu sehen, in welchem Jahrhundert ein Buch häufig frequentiert wurde und in welchem nicht? Vielleicht hat sich für eine solche Fragestellung noch niemand bei den Männerklöstern interessiert, während man dies den Frauen leichter unterstellt, und dies, obwohl die Befunddichte so dünn ist. Vielleicht hat aber auch die von außen aufgezwungene Lebenssituation im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit das Verhältnis zum Buch und zur Lektürewahl derartig beeinflusst. Schließlich muss man aber auch noch bedenken, dass es seit dem 14. Jh. unter den Gelehrten - auch in der Kirche - im Zuge des humanistischen Bildungsstrebens eine solche Jagd nach Handschriften gab, dass die Klöster Verluste hinnehmen mussten. [4] Dies geschah also schon zu einer Zeit, als man gerade erst begann, Handschriftenkataloge zu erstellen.

Generell ist zunächst einmal anzumerken, dass es – auch in einer mittelalterlichen Gemeinschaft – eher der seltene und katastrophale Extremfall war, wenn der überwiegende Teil eines Konventes krank war. Für solche Fälle ist bis heute (und nicht nur in klösterlichen Gemeinschaften!) schnell die Kapazität an medizinisch verfügbarem Wissen und Material erschöpft. In allen anderen Fällen genügte es und genügt bis heute, wenn sich je nach Konventsgröße zwei bis drei Personen in diesem Gebiet gut auskannten. Andere hatten andere Aufgaben. Der Organismus Kloster funktioniert ja gerade dadurch, dass jeder an seinem Platz das für alle Notwendige beiträgt, so dass es zu einem großen Ganzen wird. Dies bedeutet aber auch, dass es Phasen im Lauf der Geschichte einer Klostergemeinschaft gab und geben konnte, in denen durch Überfall, Raub und Brandschatzung einerseits materielle Werte verloren gingen, andererseits oft Personenschaden entstand. Eine plötzlich aus dem Leben gerissene Person hat eben – egal an welchem Platz sie wichtig war – keine Möglichkeit einer Einarbeitung einer Nachfolgerin. Zudem waren die Personalstärken von Konventen in der Blütezeit durch rasches Wachstum und damit verbundene zahlreiche Neugründungen rasch veränderlich, andererseits in späteren Zeiten durch den Mangel an Nachwuchs stark schwankend.

Dass bei klösterlichen Entscheidungsvorgängen nicht die Absicherung, in welcher Hinsicht auch immer, an allererster Stelle stehen durfte, das sollte sich aus dem Wesen eines Klosters schon erschließen. Wenn nun also kein personeller Engpass bestand, keine solch extreme Armut, die die Anschaffung oder eigene Herstellung derartigen Buchmaterials erschwerte und kein sonstiger Mangel an den Möglichkeiten der Wissensvermittlung herrschte, so war es immer noch vom Talent einer Mitschwester abhängig, ob sie in die Fußstapfen ihrer Vorgängerin in gleicher Weise treten konnte. Zudem war und ist die Medizin keine Wissenschaft, die man nur aus Büchern lernen kann, sodass auch der Umstand in Rechnung gestellt werden muss, dass es praktische medizinische Talente und gefragte Frauen geben konnte, die nie ein Werk von Galen gelesen hatten, noch anderes Lehrmaterial in Buchform kannten, dafür aber in langen Jahren der Ausübung ihres Dienstes und aus der mündlichen Tradition heraus in gleicher Weise kompetent waren. Die Anforderungen an Gedächtnisleistungen und Merkfähigkeit ohne Nachschlagewerke und andere Hilfsmittel waren unvergleichlich höher als die heutigen. Wer Psalter und ganze Lesungen auswendig konnte, sollte der sich nicht auch andere Sachverhalte über Jahre merken können, wenn er sie regelmäßig praktizierte?

Schließlich ist noch einer weiteren Sache Rechnung zu tragen: Eine klösterliche Bibliothek mit entsprechender Ausstattung zu besitzen bedeutete nicht zwangsläufig, dass auch jede interessierte Schwester an jedes Buch kam. Es gab bestimmte Zeiten zur Ausleihe und Verantwortliche, die Dinge auszuleihen hatten, sie aber unter gewissen Umständen auch verweigern konnten. Zudem musste bei der zuständigen Oberin noch um Erlaubnis gebeten werden. So lag vieles auf dem Weg zum Buch am Interesse und an der Gewichtung anderer Instanzen und ihrer Einstellung zu dieser Sache. Nicht zuletzt hing viel auch von den Fähigkeiten der Archivarin und dem Ordnungszustand der Bibliothek ab. Letztere musste nicht unbedingt mit der Bibliothekarin identisch sein. So konnte schon allein der Verlust einer guten Archivarin dafür verantwortlich sein, dass manche Bücher von da an ein Schattendasein führten. Und die Tatsache, dass Frauen vom Studium ausgeschlossen waren, verringerte auch die Möglichkeiten, zufällig eine medizinische Schrift, z.B. aus einer Sammelhandschrift, in die Hände zu bekommen.

Mal ganz abgesehen von der klösterliche Frauenthemen entweder ignorierenden oder tendenziös beurteilenden Art frühneuzeitlicher und neuzeitlicher Geschichtsschreibung und der Rolle der Frau ganz allgemein in dieser Zeit, sind all diese vielen Einflussfaktoren innerhalb einer Gemeinschaft zu berücksichtigen, wenn man in die frühen Jahrhunderte zisterziensischen Nonnenlebens vordringen und diese beurteilen will. Selbst die Namensüberlieferungen sind selten, um wieviel mehr dann die Aufgabenbereiche und die Art und Weise der Wahrnehmung derselben. Das Amt der Infirmaria, der Siechmeisterin, muss es parallel zum Infirmarius immer gegeben haben, da es eine Forderung der Benediktsregel ist (vgl. RB 36,7), sich um die kranken Mitschwestern innerhalb der Klausur (vgl. RB 66,6) zu kümmern. Was also wurde in den Klöstern getan, um dieser Forderung in zeitgenössischer Form nachzukommen?

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[1] Katrinette BODARWÉ, Pflege und Medizin in mittelalterlichen Frauenkonventen, Med. hist. J. 37 (2002) S. 231 – 263, hier 244.
[2] Vgl. BODARWÉ, ebd. S. 244 mit Anm. 56, in der der Prozentsatz medizinischer Schriften in Frauenklöstern nach Monica H. GREEN mit 4% beziffert wurde.
[3] Vgl. BODARWÉ, ebd. S. 244 mit Anm. 56.
[4] P. RIEMER / M. WEISSENBERGER / B. ZIMMERMANN, Einführung in das Studium der Latinistik, (München 22008) S. 26. So hat sich beispielsweise ein Giovanni Boccaccio (1313-1375) der völlig verwahrlosten Bibliothek von Montecassino angenommen. Und der päpstliche Sekretär Francesco Poggio Braccolini (1380-1459), Teilnehmer am Konzil von Konstanz 1415-18, nutzte offenbar jede Gelegenheit, Klöster in ganz Westeuropa zu besuchen. Er gilt als der erfolgreichste aller Handschriftensammler.