Donnerstag, 7. November 2013

Die mittelhochdeutsche Übersetzung des "Secretum Secretorum" - Hiltgart von Hürnheim Teil I



Mit den Kreuzzügen war der Weg offen für die Aufnahme von Erfahrungen und Schriften der arabischen Welt, die ins Abendland mitgebracht und ins Lateinische übersetzt wurden. Dies hatte auch für die Medizin Mitteleuropas große Bedeutung und so ist es nicht verwunderlich, dass sich auch in Zisterzienserkreisen rasch ein Interesse daran zeigte. Nicht nur, dass der militärische Aufbruch nach Jerusalem vielen Medizinern die Gelegenheit bot, durch die notwendige Behandlung unzähliger Verwundeter auch ihre praktischen Fähigkeiten zu optimieren, das Interesse an den Behandlungsmethoden der Gegner war enorm. In dieser Zeit entwickelte sich die Hafenstadt Salerno zu einem bedeutenden Handels- und Wissenschaftszentrum. Schon vor der Jahrtausendwende war dort eine bedeutende medizinische Schule entstanden, deren Lehrer und Ärzte zunächst Mönche der Klöster Salerno und Montecassino waren. Später kamen andere weltliche Gelehrte hinzu, Ärztedynastien bildeten sich dort. Auch die Namen einiger Ärztinnen sind überliefert, die nicht nur praktizierten, sondern auch lehrten und Werke verfassten.[1]

Eine solche aus dem Arabischen über das Lateinische ins Mittelhochdeutsche übersetzte Schrift, die auch medizinische Lehren enthielt, war das Secretum Secretorum, das etwa um die Mitte des 13. Jahrhunderts von einem nicht näher einzuordnenden Kleriker namens Philipp im Auftrag eines aus Spanien stammenden kirchlichen Vorgesetzten in die lateinische Sprache übertragen wurde.[2]  Dass eine solche Übersetzung, auch wenn sie nur teilweise Medizinisches enthielt, sehr rasch den Weg zu den Gelehrten in Salerno gefunden haben dürfte, liegt nahe. Der Weg von Salerno über die Abtei Kaisheim nach Zimmern, wo sie im Auftrag eines Kaisheimer Mönchs von der hier interessierenden Zisterzienserin übersetzt wurde, kann zwar nur vermutet werden, dies jedoch mit einiger Begründung, die sich aus der Herkunft der Familie, deren Sozialkontakten und den Verwandtschaftsbeziehungen dieser Frau erhellt:

Das edelfreie Geschlecht derer von Hürnheim, das im nördlichen Schwaben beheimatet war, zählte zu den Parteigängern der Staufer und war in dieser Eigenschaft auch am sizilianischen Hof des letzten Stauferkönigs Konradin präsent.[3] Es gliederte sich in drei Linien, die vom Rauhen Haus, die von Hochaltingen und die vom Hohen Haus. Alle drei Linien haben eine Beziehung zu jenem Frauenkloster, in dem Hiltgart (Linie vom Hohen Haus) um 1262 eintritt und welches Rudolf von Hürnheim (Linie vom Rauhen Haus) schon 1152 reich dotierte. Im Zusammenhang mit der mutmaßlichen Herkunft der obigen Schrift ist mit Friedrich von Hürnheim (Linie von Hochaltingen) ein weiterer Vertreter zu nennen, dessen Name der Nachwelt dadurch erhalten blieb, dass er an der Seite von König Konradin am 29. Oktober 1268 in Neapel enthauptet wurde.[4] Der leibliche Bruder dieses Mannes war Priestermönch in Kaisheim und offenbar zu Beginn der 80er Jahre des 13. Jahrhunderts der Spiritual von Zimmern.[5] Von ihm nun erhält die junge Hiltgart mit Erlaubnis der Äbtissin Elisabeth den Auftrag zur Übersetzung dieses Werkes.

Wie diese eben erst ins Lateinische übersetzte Schrift in die Hände des Bruders Rudolf von Hürnheim kam, kann nur vermutet werden. Die Mutter des Staufers Konradin, die in Landshut geborene Wittelsbacherin Elisabeth von Bayern, die 1272 zur Erinnerung an ihren verstorbenen Sohn das Stift Stams in Tirol stiftete und es mit Mönchen aus der Abtei Kaisheim besetzen ließ, könnte den dortigen Zisterziensern diese Schrift in Erinnerung an die Ereignisse von Neapel und im Zusammenhang mit ihrer Klostergründungsabsicht geschenkt haben. Ihr 1254 in Italien verstorbener erster Ehemann, der deutsche König Konrad IV., bezeichnete die Schule von Salerno als antiqua mater et domus studii[6], wodurch eine Verbindung zu dieser bedeutenden Lehrstätte der Mediziner hergestellt wäre. Dass die Schrift zudem ausführlich moralische und politische Lehren nach Art eines Fürstenspiegels[7] enthält, macht einen vorherigen Besitz der Mutter dieses Königs wahrscheinlich. Der Kontakt zu einem Verwandten des Leidensgenossen ihres Sohnes, dem Bruder des Friedrich von Hürnheim, scheint daher gut möglich.

Mit der Übersetzung dieser Schrift in die Muttersprache hat die Nonne Hiltgart von Hürnheim nicht nur einen heute noch beachteten Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte geschrieben, sie hat auch der deutschen Medizin des Mittelalters einen wertvollen Dienst erwiesen. Gerade in den Klöstern musste in der Folge der Konzilsbeschlüsse, die die Kleriker von der Medizin immer mehr ausschlossen, eine Lösung gefunden werden. Die sinkende Zahl der zu lateinischer Lektüre fachlich anspruchsvoller Texte fähigen niederadligen und bürgerlichen Laienbrüder dürfte die Übersetzung eines solchen Werkes in die Muttersprache notwendig gemacht haben. Gleichwohl bestand offensichtlich ein großes Interesse daran, hinsichtlich medizinischer Fragen auf der Höhe der Zeit zu sein. Und diese Schrift war das modernste, was die Welt damals zu bieten hatte. Die Übertragung dieser Aufgabe an eine Frau zeugt einerseits von der Kenntnis ihrer übersetzerischen Möglichkeiten und andererseits von großem Vertrauen in die Fähigkeiten dieser Frau. Die Bemerkung ihrer Vorrede, dass der Auftraggeber es viel besser gekonnt hätte[8], scheint auf ein gegenseitiges Wissen um die Fähigkeiten des jeweils anderen hinzuweisen, womit vielleicht ein Lehrer – Schüler – Verhältnis anzunehmen ist.[9] Dass der Mönch diese Aufgabe nun nicht übernimmt und die Übersetzung an eine Frauenabtei delegiert, scheint dem Verbot der medizinischen Betätigung von Ordensleuten Rechnung zu tragen. Denn wenn den Ordensleuten persönliches medizinisches Handeln kirchlicherseits untersagt war, so doch nicht die Sorge für die Kranken. Doch dies wäre nur eine Seite von vielen möglichen Gründen. Zu ihrer Zeit war eine solche Übersetzung aber in jedem Fall ein wesentlicher Beitrag, aktuelles medizinisches Wissen auch im eigenen Kloster und in den mit diesem verbundenen Gemeinschaften anwendbar zu machen.

Wer war also diese Zisterzienserin und welche Möglichkeiten bot ihr ihr Kloster? Ihr Name war Hiltgart von Hürnheim und ihr Kloster hieß Zimmern. Es war eines der bis heute weniger bekannten Frauenklöster. Gleichwohl ist allein durch diese Übersetzung zu erfahren, dass es dort schon wenige Jahrzehnte nach der 1245 erfolgten Gründung ein Skriptorium gab und eine Übersetzerin und Schreiberin, die über ein sehr hohes Bildungsniveau verfügte.


[1] Zur Schule Von Salerno in diesem Abschnitt: Gastone LAMBERTINI, Die Schule von Salerno und die Universitäten von Bologna und Padua, in: Illustrierte Geschichte der Medizin, hg. von Richard TOELLNER, Sonderausgabe Erlangen 1992) 727 – 749. 
[2] Vgl. Reinhold MÖLLER (Hg.), Hiltgart von Hürnheim. Mittelhochdeutsche Prosaübersetzung des „Secretum Secretorum“, (Deutsche Texte des Mittelalters 56, Berlin 1963) Einleitung S. XV., LIX-LXII. Nach ihrem Prolog wurde die Übersetzung dieser Schrift im Auftrag eines Bischofs von Tripolis namens Guido von Valencia  von einem Kleriker namens Philipp erstellt, der lt. dem Herausgeber der Ausgabe Oxford 1920, Robert Steele, seiner Muttersprache nach Franzose war, vgl. MÖLLER, ebd., Einleitung S. LX. 
[3] Vgl. zu den Verwandtschaftsbeziehungen in diesem Abschnitt die Angaben bei MÖLLER, ebd., Einleitung, S. LXIIIf. 
[4] Zu den Ereignissen von Neapel siehe beispielsweise: Hans U. ULLRICH, Konradin von Hohenstaufen. Die Tragödie von Neapel, (München 2004). 
[5] Vgl. MÖLLER, ebd., Einleitung, S. LXIVf. 
[6] Zitat nach Gastone LAMBERTINI, Die Schule von Salerno und die Universitäten von Bologna und Padua, in: Illustrierte Geschichte der Medizin, Bd. 2, hg. von Richard TOELLNER, (Sonderauflage Erlangen 1992) S. 734. 
[7] MÖLLER, ebd., Einleitung S. XV. 
[8] MÖLLER, ebd., hier Edition des Textes der Hiltgart von Hürnheim, Vorrede, S. 3, Vers 27. 
[9] Vgl. MÖLLER, ebd., Einleitung S. LXV.