Mit den Kreuzzügen
war der Weg offen für die Aufnahme von Erfahrungen und Schriften der arabischen
Welt, die ins Abendland mitgebracht und ins Lateinische übersetzt wurden. Dies
hatte auch für die Medizin Mitteleuropas große Bedeutung und so ist es nicht
verwunderlich, dass sich auch in Zisterzienserkreisen rasch ein Interesse daran
zeigte. Nicht nur, dass der militärische Aufbruch nach Jerusalem vielen
Medizinern die Gelegenheit bot, durch die notwendige Behandlung unzähliger
Verwundeter auch ihre praktischen Fähigkeiten zu optimieren, das Interesse an
den Behandlungsmethoden der Gegner war enorm. In dieser Zeit entwickelte sich
die Hafenstadt Salerno zu einem bedeutenden Handels- und Wissenschaftszentrum.
Schon vor der Jahrtausendwende war dort eine bedeutende medizinische Schule entstanden,
deren Lehrer und Ärzte zunächst Mönche der Klöster Salerno und Montecassino
waren. Später kamen andere weltliche Gelehrte hinzu, Ärztedynastien bildeten
sich dort. Auch die Namen einiger Ärztinnen sind überliefert, die nicht nur
praktizierten, sondern auch lehrten und Werke verfassten.[1]
Eine solche aus
dem Arabischen über das Lateinische ins Mittelhochdeutsche übersetzte Schrift,
die auch medizinische Lehren enthielt, war das Secretum Secretorum, das etwa um die Mitte des 13. Jahrhunderts von
einem nicht näher einzuordnenden Kleriker namens Philipp im Auftrag eines aus
Spanien stammenden kirchlichen Vorgesetzten in die lateinische Sprache
übertragen wurde.[2]
Dass eine solche Übersetzung, auch wenn
sie nur teilweise Medizinisches enthielt, sehr rasch den Weg zu den Gelehrten
in Salerno gefunden haben dürfte, liegt nahe. Der Weg von Salerno über die
Abtei Kaisheim nach Zimmern, wo sie im Auftrag eines Kaisheimer Mönchs von der
hier interessierenden Zisterzienserin übersetzt wurde, kann zwar nur vermutet
werden, dies jedoch mit einiger Begründung, die sich aus der Herkunft der
Familie, deren Sozialkontakten und den Verwandtschaftsbeziehungen dieser Frau
erhellt:
Das edelfreie
Geschlecht derer von Hürnheim, das im nördlichen Schwaben beheimatet war,
zählte zu den Parteigängern der Staufer und war in dieser Eigenschaft auch am
sizilianischen Hof des letzten Stauferkönigs Konradin präsent.[3] Es
gliederte sich in drei Linien, die vom Rauhen Haus, die von Hochaltingen und
die vom Hohen Haus. Alle drei Linien haben eine Beziehung zu jenem
Frauenkloster, in dem Hiltgart (Linie vom Hohen Haus) um 1262 eintritt und
welches Rudolf von Hürnheim (Linie vom Rauhen Haus) schon 1152 reich dotierte.
Im Zusammenhang mit der mutmaßlichen Herkunft der obigen Schrift ist mit
Friedrich von Hürnheim (Linie von Hochaltingen) ein weiterer Vertreter zu
nennen, dessen Name der Nachwelt dadurch erhalten blieb, dass er an der Seite
von König Konradin am 29. Oktober 1268 in Neapel enthauptet wurde.[4] Der
leibliche Bruder dieses Mannes war Priestermönch in Kaisheim und offenbar zu
Beginn der 80er Jahre des 13. Jahrhunderts der Spiritual von Zimmern.[5]
Von ihm nun erhält die junge Hiltgart mit Erlaubnis der Äbtissin Elisabeth den
Auftrag zur Übersetzung dieses Werkes.
Wie diese eben
erst ins Lateinische übersetzte Schrift in die Hände des Bruders Rudolf von
Hürnheim kam, kann nur vermutet werden. Die Mutter des Staufers Konradin, die
in Landshut geborene Wittelsbacherin Elisabeth von Bayern, die 1272 zur
Erinnerung an ihren verstorbenen Sohn das Stift Stams in Tirol stiftete und es
mit Mönchen aus der Abtei Kaisheim besetzen ließ, könnte den dortigen
Zisterziensern diese Schrift in Erinnerung an die Ereignisse von Neapel und im
Zusammenhang mit ihrer Klostergründungsabsicht geschenkt haben. Ihr 1254 in
Italien verstorbener erster Ehemann, der deutsche König Konrad IV., bezeichnete
die Schule von Salerno als antiqua mater
et domus studii[6],
wodurch eine Verbindung zu dieser bedeutenden Lehrstätte der Mediziner hergestellt
wäre. Dass die Schrift zudem ausführlich moralische
und politische Lehren nach Art eines Fürstenspiegels[7]
enthält, macht einen vorherigen Besitz der Mutter dieses Königs wahrscheinlich.
Der Kontakt zu einem Verwandten des Leidensgenossen ihres Sohnes, dem Bruder
des Friedrich von Hürnheim, scheint daher gut möglich.
Mit der
Übersetzung dieser Schrift in die Muttersprache hat die Nonne Hiltgart von
Hürnheim nicht nur einen heute noch beachteten Beitrag zur deutschen
Literaturgeschichte geschrieben, sie hat auch der deutschen Medizin des
Mittelalters einen wertvollen Dienst erwiesen. Gerade in den Klöstern musste in
der Folge der Konzilsbeschlüsse, die die Kleriker von der Medizin immer mehr
ausschlossen, eine Lösung gefunden werden. Die sinkende Zahl der zu
lateinischer Lektüre fachlich anspruchsvoller Texte fähigen niederadligen und
bürgerlichen Laienbrüder dürfte die Übersetzung eines solchen Werkes in die
Muttersprache notwendig gemacht haben. Gleichwohl bestand offensichtlich ein
großes Interesse daran, hinsichtlich medizinischer Fragen auf der Höhe der Zeit
zu sein. Und diese Schrift war das modernste, was die Welt damals zu bieten
hatte. Die Übertragung dieser Aufgabe an eine Frau zeugt einerseits von der
Kenntnis ihrer übersetzerischen Möglichkeiten und andererseits von großem
Vertrauen in die Fähigkeiten dieser Frau. Die Bemerkung ihrer Vorrede, dass der
Auftraggeber es viel besser gekonnt hätte[8],
scheint auf ein gegenseitiges Wissen um die Fähigkeiten des jeweils anderen
hinzuweisen, womit vielleicht ein Lehrer – Schüler – Verhältnis anzunehmen ist.[9]
Dass der Mönch diese Aufgabe nun nicht übernimmt und die Übersetzung an eine
Frauenabtei delegiert, scheint dem Verbot der medizinischen Betätigung von
Ordensleuten Rechnung zu tragen. Denn wenn den Ordensleuten persönliches
medizinisches Handeln kirchlicherseits untersagt war, so doch nicht die Sorge
für die Kranken. Doch dies wäre nur eine Seite von vielen möglichen Gründen. Zu
ihrer Zeit war eine solche Übersetzung aber in jedem Fall ein wesentlicher
Beitrag, aktuelles medizinisches Wissen auch im eigenen Kloster und in den mit
diesem verbundenen Gemeinschaften anwendbar zu machen.
Wer war also diese
Zisterzienserin und welche Möglichkeiten bot ihr ihr Kloster? Ihr Name war
Hiltgart von Hürnheim und ihr Kloster hieß Zimmern. Es war eines der bis heute
weniger bekannten Frauenklöster. Gleichwohl ist allein durch diese Übersetzung zu
erfahren, dass es dort schon wenige Jahrzehnte nach der 1245 erfolgten Gründung
ein Skriptorium gab und eine Übersetzerin und Schreiberin, die über ein sehr
hohes Bildungsniveau verfügte.
[1] Zur Schule Von Salerno in diesem
Abschnitt: Gastone LAMBERTINI, Die Schule von Salerno und die Universitäten von
Bologna und Padua, in: Illustrierte Geschichte der Medizin, hg. von Richard
TOELLNER, Sonderausgabe Erlangen 1992) 727 – 749.
[2] Vgl. Reinhold MÖLLER (Hg.),
Hiltgart von Hürnheim. Mittelhochdeutsche Prosaübersetzung des „Secretum
Secretorum“, (Deutsche Texte des Mittelalters 56, Berlin 1963) Einleitung S.
XV., LIX-LXII. Nach ihrem Prolog wurde die Übersetzung dieser Schrift im
Auftrag eines Bischofs von Tripolis namens Guido von Valencia von einem Kleriker namens Philipp erstellt,
der lt. dem Herausgeber der Ausgabe Oxford 1920, Robert Steele, seiner
Muttersprache nach Franzose war, vgl. MÖLLER, ebd., Einleitung S. LX.
[3] Vgl. zu den
Verwandtschaftsbeziehungen in diesem Abschnitt die Angaben bei MÖLLER, ebd., Einleitung,
S. LXIIIf.
[4] Zu den Ereignissen von Neapel
siehe beispielsweise: Hans U. ULLRICH, Konradin von Hohenstaufen. Die Tragödie
von Neapel, (München 2004).
[6] Zitat nach Gastone LAMBERTINI,
Die Schule von Salerno und die Universitäten von Bologna und Padua, in:
Illustrierte Geschichte der Medizin, Bd. 2, hg. von Richard TOELLNER,
(Sonderauflage Erlangen 1992) S. 734.
[9] Vgl. MÖLLER, ebd., Einleitung S.
LXV.